Zwischen zwei Welten - von Schönheits-OPs und gegrillten Meerschweinchen
Zwischen zwei Welten - von Schönheits-OPs und gegrillten Meerschweinchen
Autor: Michael Two
Heute ist der 24. Dezember und ich verlasse in kurzen T-Shirts und Sonnenbrillen meine Wohnung im Geschäftsviertel von Quito. Vor dem Shoppingcenter, das ich passiere steht ein perfekt symmetrisch grüner Weihnachtsbaum aus Plastik, verziert mit überdimensionalen Geschenken und glänzenden Goldgirlanden. Durch meine Sonnenbrillen bleibt der Anblick erträglich. Mein erstes Weihnachten fernab dem kalten Österreich. Seit neun Monaten arbeite ich - zusammen mit einem kolumbianischen Sozialarbeiter - im Straßenkinderprojekt der Salesianer Don Boscos. Täglich besuche ich, die auf der Straße arbeitenden Kinder: Schuhputzer, Zeitungsverkäufer, Autowäscher und Straßenartisten.
Endlich gelange ich an die Straßenecke mit dem Zeitungsstand. Luis sitzt auf einer kleinen Holzkiste am Boden und zählt das Wechselgeld. Wir begrüßen uns mit unserem typischen Handschlagritual, danach überlasse ich ihm meine Sonnenbrillen. Natalie umarmt mich am Hosenbein, Christian ist gerade beleidigt und ignoriert mich. Maria kommt von der Seite angelaufen und springt von hinten auf meinen Rücken und versucht, mir eine dieser roten Weihnachtsmann-Mützen aufzusetzen. Ich lasse es über mich ergehen und lege eine kurze Performance als Santa Claus hin. Die Kinder lachen und machen Fotos mit meiner Kamera.
Da es heute keine Hausaufgaben zu machen gibt, überlasse ich den Kindern die Kamera, setzte mich statt Luis auf die Holzkiste und übernehme den Zeitungsstand. Christian setzt sich neben mich auf den Straßenboden und malt mir, mit seinem Buntstift auf meine Hose. Na toll.
„Freust du dich schon auf den Heiligen Abend?“ Er zuckt belanglos mit den Schultern und malt einen weiteren Stern auf meine Hose. Plötzlich kommt die wilde Horde wieder angerauscht. Luis trägt lässig - meine Ray-Ban Sonnenbrillen auf der Nase - eine große Schuhschachtel mit beiden Armen vor sich her. Maria und Natalie füttern abwechselnd seitlich Grashalme und Karottenstücke durch eine kleine Öffnung. Der Karton landet auf meinem Schoß und ich bekomme selbst Grashalme und Karottenstücke in den Mund geschoben. Etwas in dem Karton bewegt sich. Instinktiv rümpfe ich die Nase.
Wir versammeln uns am Projektgelände der Salesianer. Eine Abordnung, junger modisch gekleideter Leute, sortiert Warenspenden und erteilt Anweisungen. Die Straßenkinder werden in langen Reihen aufgestellt und mit Barbie Puppen, Spielzeugrobotern und Fußbällen abgefertigt. Eine bekannte amerikanische Fastfood Kette liefert Pizza in meterhohen weißen Kartons. Ich verteile Plastikbecher und schenke Cola aus. Skeptisch begutachten die Kinder die eckig lauwarmen Stücke, bevor sie halb angebissen wieder im Pizzakarton landen.
Am Nachmittag löse ich mein Versprechen ein und lade die Kinder vom Zeitungsstand zu mir nach Hause – in meine zugegeben, doch sehr komfortable Zivildienerwohnung ein. Eine Einladung, die ich meinen Kindern als Motivation in Aussicht gestellt hatte, um sie bis zu den Weihnachtsferien zu schulischen Höchstleistungen anzustiften. Stefan, mein Mitbewohner, ist bereits am Vorabend mit dem Nachtbus zum Strand nach Montanita - einem kleinen verschlafenen Surfer Kaff an der Pazifikküste - aufgebrochen, um dort mit den anderen Zivis Weihnachten abzufeiern. Ich bin froh, die Wohnung ein paar Tage nur für mich zu haben.
Wir passieren das Shoppingcenter - plötzlich kommt mir eine Idee und ich mache halt.
„Lust auf eine kleine Shopping-Runde im Supermarkt?“ Die Mädchen rücken dicht an meine Seite und fassen mich an den Händen. Die Jungs inspizieren vorsichtig wie zwei Pioniere das neue Gelände. Den Sicherheitsdienst am Eingang halte ich mit einem entschlossenen Blick auf Distanz. Im fast sterilen Inneren des Einkaufszentrums wirken die Kinder wie ein Fremdkörper. Die Mädchen organisieren den Einkaufswagen, die Burschen hängen bereits seitlich zu beiden Seiten wie zwei Klammeräffchen dran. Instinktiv wird auf die Süßigkeiten Abteilung zugesteuert. Ich überlasse den Kindern das Kommando und absorbiere skeptische Blicke vornehmer Kundschaft. Wie eine graue Abgaswolke bewegen wir uns durch den Supermarkt. An der Kassa bezahle ich mit einem zufriedenen Lächeln und genieße den Anblick strahlender Kindergesichter. Zielsicher verlassen wir – wie ein Rudel weißer Plastiksäcke – eine mir selbst fremd gewordene Umgebung. In der Wohnung angekommen, basteln wir Weihnachtskarten und essen Süßigkeiten bis uns schlecht ist. Drei Stunden später bringe ich sie zurück zum Zeitungsstand, umarme sie und überlasse sie mit einem „Feliz Navidad!“ ihren Eltern.
Wieder zu Hause dusche ich und suche im Kleiderschrank vergeblich nach feiner Abendgarderobe. In sauberen Jeans und Pullover verlasse ich die Wohnung. An der nächsten Straßenecke warte ich auf den Bus. Innerhalb der nächsten fünf Minuten wird es - wie durch einen Dimmer heruntergeregelt – stufenweise finster. Endlich sehe ich den Bus kommen. Doch der macht keinerlei Anstalten sein Tempo zu reduzieren.
Mit ein paar Laufschritten Anlauf springe ich auf den anfahrenden Bus auf. Das mit den Haltestellen nimmt hier keiner so ernst. Ich begleiche das Fahrtgeld. Jetzt gibt der Fahrer extra Vollgas und mich schleudert es direkt bis auf die Rückbank. Außer mir sind kaum Fahrgäste an Board. Ich studiere die Adresse auf dem Notizzettel genauer und setzte meine Fahrt in Richtung Süden, dem Nobelviertel von Quito fort.
Pünktlich auf die Minute, stehe ich auf der Fußmatte einer Luxusvilla, wie ich sie noch nie gesehen habe. Vergewissere mich nochmals auf meinem Notizzettel nach dem richtigen Namen und läute die Türglocke. Die Lady aus meiner Laufgruppe öffnet die Türe und küsst mich zur Begrüßung auf beide Wangen. Ich entschuldige mich kurz für meine einfache Garderobe und überreiche schnell eine Flasche österreichischen Wein. Sie macht mir mit einem Augenzwinkern ein Kompliment zu meinem schwarzen Pullover und lobt meinen guten Geschmack. Die Lady betreibt eine kleine Modeboudique - das Guys & Dolls – in einem sehr exklusiven Einkaufszentrum, dem El Caracol – einem Schneckenhaus der reichen Oberschicht.
Ich werde durch die Runde mit Herrschaften in eleganter Abendgarderobe geführt und als österreichischer Zivildiener vorgestellt. Herren in schwarzen Anzügen und Krawatte – Damen mit viel Make-up und makellosen Gesichtern. Innerhalb von wenigen Augenblicken sind die Straßenkinder und ich das Gesprächsthema Nummer Eins der feinen Abendgesellschaft. Bedienstete servieren Drinks auf Silbertabletts und ich erzähle in fast fließendem Spanisch von meinen Beweggründen, die mich in ihr Land geführt hatten. Es folgt ein Gala Abendessen mit mehreren Gängen. Ihr Mann, ein hochrangiger Vertreter eines internationalen Lebensmittelkonzerns, nutzt die kurzen Unterbrechungen für seine Werbelaudatio zu neuen Produkten, bis die Lady gekonnt das Thema wechselt.
Ich stochere gerade konzentriert mit einer Silbergabel auf perfekt symmetrisch grüne Salatblätter ein, als plötzlich zu meiner Überraschung die Frage – „Wie gefallen dir eigentlich die Frauen hier in Südamerika?“ – vor mir auf dem Teller landet. Ich schaffe es gerade noch, mich nicht an einer Olive zu verschlucken, lege das Besteck zur Seite und greife nach der Stoffserviette. Ich spüre Augenpaare und Brillengläser auf mich gerichtet, lasse die Frage kurz in mir nachklingen und halte inne - Frauen nach dem südamerikanischen Schönheitsideal mit großen Brüsten und dicken Hintern? Eigentlich gar nicht so mein Fall. - Ich ziehe die Möglichkeit in Betracht die Frage nicht richtig verstanden zu haben. Entschließe mich aber dann doch laut weiter zu denken und lächle dabei meiner Gastgeberin bis zum anderen Ende der Tafel zu. „Heute Morgen hab ich im Park diese eine Läuferin gesehen, die mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht.“ Wohlwollende Weihnachtsstille an der Festtafel. Dann streckt endlich der alte Mann neben mir zustimmend sein Weinglas in die Höhe und spricht einen Toast aus, dessen Sinn ich nicht erfasse. Der österreichische Rotwein entspannt mich und ich lasse mich in meinen Sessel zurückfallen, schließe meine Augen und gebe mich nochmals dem Traum mit der unbekannten Läuferin hin.
Nach dem Dessert verabschiede ich mich vorzeitig, bedanke mich für den netten Abend und erinnere die Lady an das nächste gemeinsame Training am Sonntag zum langen Dauerlauf. Sie begleitet mich an die Tür, zieht mich dann nah an sich heran – ihre Lippen dicht an mein Ohr gepresst – flüstert sie mir leise zu: „Ich bin die Einzige in der heutigen Damenrunde, die noch keine Schönheits-OP zu Weihnachten geschenkt bekommen hat.“ Ich schlucke kurz und entgegne dann lächelnd, dass das eben ein Nachteil ihres regelmäßigen Lauftrainings sei. Ihre natürliche Schönheit überstrahlt die puppenhaft verzierten Gesichter der übrigen Damenrunde und verleiht ihrem Wesen eine zeitlose Eleganz.
Zurück in der Wohnung stecke ich die bunte Lichterkette meiner Weihnachts-Palme an, setzte mich auf die etwas ausgebeulte Couch und öffne den Brief meiner Schwester. Die einzige Nachricht die mich vor Weihnachten rechtzeitig erreicht hat. Dazu esse ich Mozartkugeln, die ich mir für den heutigen Abend aufgehoben habe. Ich lasse die Eindrücke des Tages Revue passieren und schließe mit einem Eintrag in mein Tagebuch:
„Zwischen zwei Welten - Für die Einen gibt’s zu Weihnachten Schönheits-OPs, für die Anderen im besten Fall Mehrschweinchen mit Kochbananen.“
[verfasst im Dezember 2015]